Um diese gigantische Stadt in kurzer Zeit zu erobern, mussten wir härtere Geschütze auffahren. Ab jetzt geht es nur noch mit dem Fahrrad voran. Während hier jeder fährt, wie er will – zum Beispiel die Roller, die Einbahnstraßen völlig ignorieren – werden wir angepfiffen, weil wir uns einmal erlauben, mit dem Fahrrad über den Zebrastreifen zu fahren. Zur selben Zeit wurde in Xintiandi feierlich im Gleichschritt die chinesische Flagge zur Nationalhymne gehisst.
Hier befinden sich in alten, französischen Gebäuden, kleine Läden, Galerien und Cafés. Shanghai hat zwar unterschiedlichste Baustile und Epochen, die das Stadtbild so besonders machen, aber viele Gegenden sind tatsächlich austauschbar, weil sie immer in Luxus-Kaufhäusern und irgendwelchen TikTok-Trends enden. Kapitalismus wird hier großgeschrieben.
Und was die Leute hier kaufen, verstehen wir überhaupt nicht. Irgendwelche Plüschkatzen mit Gesichtern, seltsame Figuren – und überall lassen sie sich damit fotografieren. Sie tragen Taschen mit durchsichtigen Fächern, in denen sie diese merkwürdigen Dinge zur Schau stellen. Wir verstehen diese Jugendkultur wirklich nur sehr, sehr wenig. Japanische Trends können wir nachvollziehen – die kommen ja wenigstens noch irgendwie bei uns an. Aber hier ist alles abgeriegelt. Völlig!
Zumindest das Radfahren in Shanghai ist ein wahrer Genuss. Mit dem Fahrrad kommst du überall entlang, denn du hast eine eigene Spur. Naja, zumindest teilst du sie dir oft mit Rollern, für die dieser Fahrstreifen eigentlich nicht gedacht sind. Das heißt, du fährst in dieser Weltmetropole teilweise auf einer fünfspurigen Straße durch ein Häusermeer, das bis in den Himmel ragt, und neben futuristischen Einkaufszentren einfach so mit dem Fahrrad. Fantastisch, oder? Du fühlst dich wie der König der Welt, während du auf einem kleinen, blauen Fahrrad durch die Megacity mit 25 Millionen Einwohnern fährst.
Die Leihfahrräder findest du überall, an jeder Ecke. Eine halbe Stunde kostet rund 30 Cent. Abstellen kannst du das Fahrrad, wo du möchtest – außer in Sperrzonen. Die gibt es meist in Touristengebieten, um die wundervollen Stadtviertel nicht mit blauen und gelben Fahrrädern zu verschandeln.
Wir hatten Durst auf einen eiskalten Kaffee – schließlich waren es heute wieder 35 °C. Wie das hier funktioniert? Ganz einfach: Du parkst dein Fahrrad vor dem Kaffeegeschäft, scannst den QR-Code mit der chinesischen App Alipay durch die Fensterscheibe, wählst aus, was du haben willst, bezahlst direkt in der App, und sobald der Kaffee fertig ist, erscheint ein neuer QR-Code. Mit dem gehst du ins Geschäft und kommst kurz darauf mit zwei Apple-Coffee-Latte wieder nach draußen. Das alles funktioniert mit einer Mischung Chinesisch und Englisch in der App. Wir raten häufig, was es heißen könnte und drücken einfach irgendeine Taste. Bis jetzt hat es funktioniert.
Wir radelten weiter durch das Gebiet der French Concession – eine der charmantesten Ecken der Stadt. Die French Concession existierte von 1849 bis 1943 als französisches Siedlungsgebiet und hat ihren Charakter bis heute bewahrt. Die Straßen sind gesäumt von alten Platanen, die ein grünes Dach über den Wegen bilden, und immer wieder siehst du alte Villen, Häuser im Art-Déco-Stil oder mit europäischen Einflüssen, kombiniert mit chinesischen Elementen. Wir durchfuhren diese Idylle. Es begegneten uns kaum Autos, dafür viele Fahrräder und genossen das Gefühl, dass hier Zeit etwas langsamer vergeht.
Wir sitzen im Fuxing Park, einem großen Park im französischen Viertel, der voller Einheimischer war, die sangen, Tai-Chi machten oder mit Schwertern meditierten. Wir tranken ein gutes japanisches Pfirsich-Chu-Hi und freuten uns, dass wir nicht zerflossen. Dafür konnten wir heute wirklich einmal wieder durchatmen, weil wir wahrscheinlich alle chinesischen Touristen der goldenen Woche an den Hauptspots verloren haben.
Immer wieder tauchten wir ein in eine Zeit um den Ersten Weltkrieg, um uns die damals typisch moderne Gassenarchitektur aus Backstein und Holz anzusehen – die sogenannten Lilong-Häuser, die das Stadtbild der alten Wohnviertel prägen.
Verständigung klappt hier übrigens häufig nur mit Händen und Füßen und einem Übersetzungsprogramm. Chinesen sprechen kaum bis gar kein Englisch. Irgendwie klappt es aber dennoch, hier zurecht zu kommen.
Nach etwa 18 Kilometern auf unserem schnittigen Fahrrad kamen wir pünktlich zum Sonnenuntergang am imposanten Jing’an-Tempel an, der Punkt 18 Uhr wie mit einer Taschenlampe angeknipst wurde.
So richtig prachtvoll war er eigentlich nur aus der Ferne, von einer Brücke aus, zu beobachten – wie er völlig deplatziert zwischen riesigen Wolkenkratzern steht. Natürlich sind diese um ihn herum gewachsen, und der Tempel war zuerst da. Wenn man näher kam, war das jedoch nicht mehr so eindeutig, denn die gesamten Untergeschosse bestanden aus Läden. Und nicht etwa aus traditionellen chinesischen Gewürzshops – nein, aus Prada, Louis Vuitton und Bvlgari. Denn dieser Tempel wurde, nachdem er fast vollständig abgebrannt war, völlig modernisiert und in diese kommerzielle Glitzerwelt gepflastert.