Heute früh schnappten wir uns ein Fahrrad, um zu einem anderen Bahnhof zu gelangen als gestern – zur Shanghai Railway Station, dem zentralsten Bahnhof der Stadt. In chinesischen Augen ist er zwar ziemlich winzig, hat aber trotzdem 20 Gleise und Wartehallen, die größer sind, als man sich das vorstellen kann.
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Bahnhof Suzhou |
Vor ein paar Tagen empfanden wir das Fahrradfahren zwischen Autos, Mopeds und Rollern noch als aufregend und tatsächlich etwas gefährlich. Jetzt fließt du einfach mit dem Verkehr. Niemand wird dich umfahren, auch wenn dich ständig jemand kreuzt. Bei Rot zu fahren ist hier sowieso ganz normal – zumindest für die Mopeds. So landeten wir schließlich unverletzt am Bahnhof, um in den Zug nach Suzhou zu steigen.
In chinesischer Manier waren hier Massen an Menschen unterwegs, die sich schubsten und drängelten. Warum alles so streng kontrolliert ist, mit Check-in-Schaltern und Zugangskontrollen zum Bahnhofsgelände oder zu den Gleisen, hat für uns heute total Sinn ergeben. Rein rechnerisch passen in so einen Zug etwa 1200 Leute, die alle zur gleichen Zeit auf die Gleise ausschwärmen. Was für ein Spektakel!
In nur einer halben Stunde waren wir in rasender Geschwindigkeit in der 90 Kilometer entfernten Stadt angekommen. Hier ist die Altstadt klar von der Neustadt abgegrenzt. Wir hatten erstmal Hunger. Mittlerweile essen wir rund um die Uhr Suppe oder Teigtaschen. Etwas anderes bekommst du hier ohnehin kaum.
Unser erstes Ziel war der Humble Administrator’s Garden. Wie man hier reinkommt, ist wieder denkbar einfach – oder kompliziert, je nachdem, wie man es sieht. Man geht zu einem Automaten, scannt seinen Pass und schwupps, ist die Eintrittskarte direkt im Ausweisdokument hinterlegt. Nun weiß also auch die Regierung ganz genau, dass wir innerhalb Chinas unterwegs und heute in Suzhou sind.
Der Garten ist UNESCO-Weltkulturerbe und einer der klassischen chinesischen Gärten. Natürlich war er dementsprechend gut besucht, aber längst nicht mehr so überfüllt wie während der Goldenen Woche und das war irgendwie befreiend. Damit reduzierte sich auch die Zahl der Menschen, die man ständig hört, wenn sie ihren Rotz hochziehen und auf die Straße spucken. Daran wird man sich einfach nie gewöhnen. Heute sogar am Waschbecken im Restaurant neben unserem Tisch.
Auffällig ist auch, dass sich die Menschen verändert haben, seit die Feierwoche vorbei ist. Die unfreundliche Ellenbogengesellschaft scheint wieder irgendwo in die Provinz entschwunden zu sein und plötzlich begegnen uns überall freundliche Gesichter. Abends im gigantischen Bahnhof rannte uns sogar eine Frau hinterher, obwohl wir schon längst weg waren, nur um uns den Löffel zu unserem Zugdessert hinterherzubringen.
Für einige war der Garten wieder einmal völlig nebensächlich, denn wir waren die eigentliche Touristenattraktion. Tatsächlich trifft man hier nur wenige, die so aussehen wie wir. Ständig werden wir fotografiert, manchmal sogar gefragt, ob man ein Foto mit uns machen darf und so weiter. Es ist verrückt. Manchmal kommt man sich vor, als hätten sie noch nie eine andere Ethnie gesehen. Da merkt man wieder, wie stark China doch von der Außenwelt abgeschottet ist.
Für uns ging es weiter auf der Pingjiang Road. Eine kleine „idyllische“ Gasse entlang eines Kanals mit Steinbrücken und Hängeweiden. Vom Prinzip war es hier total romantisch und ein Eldorado zum Fotos machen in chinesischen Kostümen. Allerdings war es ziemlich verkommerzialisiert, sodass du nur angehalten würdest, irgendwelches Zeug zu kaufen oder zu konsumieren.
Es gibt aber auch ziemlich witzige Sachen. Zum Beispiel hat jede Stadt ihr eigenes Eis, das in der Silhouette der jeweiligen Bauwerke gefroren ist. Was es hingegen überall gibt, sind Gänsehälse und Stinky Tofu, aber auch Fächer und Teegeschäfte. Und es eine totale Reizüberflutung, vor allem aufgrund der Geräuschkulisse.
Wir schwangen uns aufs Fahrrad und fuhren in den Panmen-Landschaftspark. Schon von außen sahen wir, dass kaum jemand hineinging – also der perfekte Ort, um endlich mal wieder zur Ruhe zu kommen. Und so war es auch. Dabei war der Park keineswegs weniger schön: Er hatte eine riesige, mehrstöckige Pagode und einen großen See mit schwimmenden schwarzen Schwänen darauf. Aus den Lautsprechern hallte melodische chinesische Musik, und als die Sonne langsam unterging, tauchte sie den ganzen Park in ein wundervolles Licht.
Brauchst du Nervenkitzel? Dann steig in einer chinesischen Millionenmetropole zur Rushhour auf ein Fahrrad und versuch, einmal quer, 10 Kilometer, durch das Stadtgebiet zu fahren. Es war einfach irre, wahrscheinlich wie Hanoi in Miniatur. Aber es funktioniert. Niemand kommt zu Schaden. Einbahnstraßen werden befahren, und wir natürlich mit, schließlich haben wir ja nur ein Fahrrad. Ampeln werden völlig ignoriert. Während der Fahrt schauen die Leute die chinesische Variante von TikTok, essen Hühnerflügel, telefonieren oder haben ihre Kinder rückwärts auf dem Sitz, die neugierig in der Gegend herumblicken.
Zur goldenen Stunde durch so eine Stadt zu radeln, in der das vermeintliche Verkehrschaos ausbleibt, weil alle miteinander völlig im Fluss sind, war ein fantastisches Erlebnis. Mittlerweile sind wir der Meinung, dass man ein Land nicht nur über das Essen oder die Augen entdeckt, sondern vor allem über das Gefühl, gemeinsam mit den Einheimischen auf der Straße unterwegs zu sein. Was wir vor sieben Tagen noch als völlig befremdlich empfunden haben, ist für uns jetzt – zumindest, was den Verkehr betrifft – überhaupt kein Ding mehr.
Wie das hier mit den Fahrrädern funktioniert? In der chinesischen Bezahl-App gibt es einen Button, also eine Mini-App in der App, den du dafür nutzt. Diese Bezahl-App ist mit deiner Kreditkarte verknüpft. Wenn du auf „Hello Ride“ gehst, werden dir in der Umgebung verfügbare Fahrräder angezeigt, die man tatsächlich überall ab- und wieder hinstellen kann, solange es eine markierte Parkfläche ist. Du scannst einfach den Code, und schwupps, entriegelt sich das Rad.
Je länger du das Fahrrad nutzt, desto günstiger wird es. Meistens nehmen wir aber Tagespässe, die bei rund 0,80€ liegen. Damit kannst du fahren, solange du möchtest. Für viele Einheimische ist das eines der wichtigsten Transportmittel und mittlerweile auch für uns.
Vom Tiger Hill aus liefen wir die drei Kilometer lange Shantang Street, eine schmale Gasse entlang eines Kanals Richtung Bahnhof. Je näher wir dem Zentrum kamen, desto lebendiger wurde es. Abends war der Kanal wunderschön beleuchtet, hin und wieder glitt ein Boot vorbei – eine idyllische Szenerie zum Sonnenuntergang.
Am unteren Teil des Kanals wurde die Stimmung fast magisch. Überall hingen rote Laternen, die sich im Wasser spiegelten. Kleine Brücken luden dazu ein, in den Kanal hinabzuschauen, und boten wunderschöne Fotomotive. Hier wurde es wieder etwas posher, die Menschen wurden mehr, doch das tat der Atmosphäre keinen Abbruch. Es war eine der schönsten Szenen, die wir je gesehen haben – wie eine chinesische Wasserstadt am Abend plötzlich eine ganz eigene, verzauberte Stimmung entfaltet.
Für uns ging es schließlich zum Bahnhof, wo wir noch kurz etwas aßen und dann zusammen mit den restlichen Tausend in den Zug nach Shanghai stiegen. Hinter uns lagen 14 Stunden unterwegs zu sein, rund 25.000 Schritte und etwa 20 Kilometer auf dem Fahrrad – ein langer, aber großartiger Tag.