Samstag, 4. Oktober 2025

Shanghai - der Wahnsinn hat einen Namen.


Wer ans Ende der Welt will, braucht sich nicht wundern, dass er ans Ende der Welt fährt. Mann, war das eine lange Anreise bisher. Aber wir haben es geschafft. Wir haben das erste Mal chinesischen Boden betreten. Vorbereitung für diese Reise gibt es reichlich. Du musst dir unzählige Apps runterladen, mit denen du bezahlen kannst oder öffentliche Verkehrsmittel fährst. Weder Bargeld noch Kreditkarten sind hier gängige Zahlungsmittel. Außerdem blockt die große Firewall so ziemlich alles, was dir woanders wichtig ist.





Auch die Arrival Card auszufüllen und die Immigration zu passieren, war alles andere als einfach. War da nicht tatsächlich die Frage nach bereisten Ländern in den letzten zwei Jahren? Und das sollte sage und schreibe in eine fünf Zentimeter lange Zeile passen. Für uns utopisch. Wir haben einfach ganz Osteuropa abgekürzt und die Zahl auf 11 statt 19 minimiert.




China ist wie ein Hochsicherheitstrakt. Schaust du im Flughafen an die Decke, findest du alle anderthalb Meter eine neue Kamera. Die totale Überwachung. Aber der Vorteil ist, du bist hier verdammt sicher. Und so waren wir binnen weniger Minuten aus dem Flughafen raus, stiegen in die Metro und fuhren eine weitere Stunde zum People’s Square, dem Herzstück Shanghais.




Erster Halt war unser Hotel, um wenigstens das Gepäck abzugeben. Und es hat tatsächlich funktioniert: eine flehende Bitte per E-Mail nach China zu schicken, dass wir unbedingt ein Zimmer in den höheren Stockwerken brauchen. Nun residieren wir im 37. Stock mit Blick über das Lichtermeer.



Einkaufen zu gehen ist hier denkbar einfach. Du öffnest die App, mit der du hier gefühlt alles machen kannst, gibst entweder einen Betrag ein oder der Verkäufer scannt deinen QR-Code. Keine Ahnung. Die Anmeldung von zu Hause dafür war spektakulär. In Deutschland würde ich niemals so viele personenbezogene Daten offenlegen, um eine App funktionstüchtig zu machen. Aber welche Wahl haben wir schon? Alles andere nützt uns nichts, um zu bezahlen.




Irgendwie haben wir nicht mitbekommen, dass genau in dieser Woche, in der wir hier sind, die Golden Week ist. Das ist sozusagen eine nationale Feiertagswoche der Chinesen. Das ganze Land soll unterwegs sein, vor allem in den Großstädten. Nachmittags war das der asiatische Standard. Aber was abends losbrach, überstieg alles, was wir bisher erlebt haben. Man benötigte Hundertschaften an Militär und Polizei, um die Millionen Menschen am Bund (Hauptflaniermeile) in die korrekte Richtung zu lenken. Das alles wurde gut mit Drohnen aus der Luft und mit gezählten acht Kameras pro Ampelanlage beobachtet.




Wer bei Chinesen an schmatzende, nasehochziehende, spuckende, rülpsende Menschen denkt, liegt tatsächlich total richtig. In der Masse entsteht ein Konzert, bei dem man lieber mit Ohrstöpseln die Straßen entlanggehen würde, weil es teilweise echt widerlich ist, wenn wieder ein Rotzschwaden neben dir auf dem Pflaster landet.



Wer das geordnete Leben von Japan liebt, wird hier im Chaos versinken. Die Menschen drängen, die Menschen schubsen, und es ist ihnen völlig egal, dass andere auch eine Daseinsberechtigung haben. Nun Schluss mit dem Gemecker. Schließlich ist es eine andere Kultur. Die Masse macht es wahrscheinlich aus, aber wir werden uns dran gewöhnen.




Das Land, das eigentlich generell westliche Einflüsse ablehnt, hat komischerweise fast die größte Starbucks-Dichte, die man sich vorstellen kann. Aber auch andere Kettenrestaurants gibt es hier. Sie haben jedoch oft einen anderen Namen als in der Realität, doch Schriftart und Design bleiben dieselben.



Wir spazierten am Suzhou Creek entlang, bei 30 °C und mächtig viel Smog. Wir besuchten einen Xiao Long Bao-Laden, aßen irgendwo zwischen Bambuskörben und gestapeltem Suppengeschirr, um uns dann in das wahre Getümmel zu stürzen. 



Es wurde immer voller und voller. So viele Menschen auf einem Haufen. Völlig hysterisch in Pop Mart-Läden und Anime-Shops verkleidet herumzurennen, haben wir noch nie gesehen. Der Hype ist unerklärlich. Wir kennen keine Figur aus dieser Szene. In riesigen Kaufhäusern fanden sich ganze Stockwerke voller Pop Mart und ähnlicher Shops, in denen man nur Figuren aus asiatischen Filmen und Zeichentrickwelten kaufen kann.



In Shanghai stolpert man buchstäblich von einer Epoche in die nächste. Zwischen hoch aufragenden Glasgiganten, die in futuristischem Minimalismus glänzen, stehen Gebäude, die aussehen wie aus einer anderen Zeit. Da gibt es Neoklassizismus, Art Déco, Renaissance und Barock. Vor allem entlang des Bunds reihen sich prächtige, europäisch inspirierte Altbauten aneinander, die früher Bankhäuser, Handelshäuser und Konsulate waren. Manche Fassaden tragen Säulen, reich verzierte Portale oder klassizistische Elemente, andere zeigen eine Mischung aus barocken und Renaissance-Details.




Und dann, wenn du endlich am Bund stehst, verschlägt es dir den Atem. Gegenüber erhebt sich die Skyline von Pudong mit dem Oriental Pearl Tower, schlanken Glastürmen und moderner Architektur. Diese Gegenüberstellung von Alt und Neu ist einfach sagenhaft. Noch beeindruckender wurde es anlässlich des International Lights Festivals. Punkt 18 Uhr erstrahlte die ganze Skyline in Laser- und Neonlicht, wechselnden Farben und vor allem in den roten Nationalfarben der chinesischen Staatsflagge. Es war ein atemberaubendes Erlebnis.




Der Weg vom Bund zurück zu unserem Hotel über die East Nanjing Straße war kaum mehr zu bewältigen. Hunderttausende schoben sich die weitläufigen Boulevards entlang. Es brauchte wirklich Hundertschaften, um Shanghai nicht im Chaos versinken zu lassen. Es wurden Einbahnstraßen eingerichtet, und in wechselnden Formationen wurde die Laufrichtung der Fußgängerzone geändert, sodass Autos die Kreuzung passieren konnten. Am eindrucksvollsten war, wie die Soldaten im Gleichschritt an die Kreuzung marschierten, sie absperrten und kurz darauf wieder für Fußgänger oder Autos freigaben. 



Unser erster Tag in Shanghai geht zu Ende, und wir sind völlig platt – nicht nur wegen des wenigen Schlafs letzter Nacht, sondern auch wegen der vielen Menschen und Eindrücke. Wir haben nämlich geahnt, dass China beziehungsweise Shanghai noch einmal eine ganz andere Nummer sein wird als das, was wir in Japan erlebt haben. Also lassen wir uns auch morgen wieder überraschen.